Die Sache mit der Autonomie – Brief an meine Tochter

12.22.2014

Mein geliebtes Tochterkind,

vor unserem Urlaub war ich oft sehr ungeduldig mit Dir. Du bekamst Deinen letzten Backenzahn, hattest dabei wie immer eine kleine Schnoddernase, warst kränklich und einfach nicht gut drauf. Dadurch fühlte ich mich zunehmend fremdbestimmt.

Wenn Du Dich nicht anziehst und stattdessen auf dem Boden vor der Tür liegst, dann komme ich nicht los zum Einkaufen oder zum Treffen mit Freunden. Wenn Du „noch wach“ bist, habe ich abends keine Zeit für mich. Wenn Du erst nicht ins Auto einsteigen, dann nicht aus dem Auto aussteigen willst und laut schreist sobald das Hörspiel angeht, weil Du ein anderes hören willst, dann habe ich überhaupt keine Ruhe.
Wir haben ziemlich viel gestritten, waren genervt, mehr als einmal wurde ich laut. Und fühlte mich schlecht. Dann saß ich an einem Abend auf dem Boden neben Dir und folgendes Gespräch fand statt:

Ich: „Das ist mir einfach im Moment alles zuviel. Ich will gar nicht rumschreien, aber ich kann nicht mehr ruhig sein.“
Du: „Bist Du ungeduldig Mama?“
Ich: „Ja, Tochterkind, ich bin ungeduldig. Es tut mir leid, dass ich geschrien habe. Was machen wir denn jetzt?“
Du: „Kuscheln!“
Also setzten wir uns auf die Couch und kuschelten, Du hast an meiner Brust getrunken und wir haben dabei Quatsch gemacht, so dass Du beim Trinken kichern musstest. Dann hast Du Dich auf meinen Schoss gesetzt, mein Gesicht in Deine Hände genommen und liebevoll gesagt: „Meine Mama!“

In dieser Situation hast DU mir geholfen mit meinem Frust umzugehen. Verkehrte Welt! Du hast mir zugehört und mich getröstet, so wie ich Dich immer tröste, wenn Du traurig und gefrustet bist.

Ich wünsche mir für Dich (und alle Kinder), dass die Erwachsenen sehen, wie kompetent Du bist. Sie sollten anerkennen wie stark Du fremdbestimmt wirst in Deinem Alltag und wie gut Du meist damit zurechtkommst.
Sie nennen es Trotzphase, wenn Du mal laut schreist oder in die andere Richtung läufst als ich es will. Sie finden Dich vielleicht ungezogen, wenn Du Sachen im Supermarkt in Deinen Wagen packst und sie nicht zurückstellen willst. Sie denken, weil Du „nur ein Kind“ bist, müsstest Du „funktionieren“ und man müsse Dir Grenzen setzen und zeigen, wer die Regeln macht. Sie fassen Dich ungefragt an und zeigen damit, dass sie Dich nicht respektieren. Dabei meinen sie das nicht mal böse. Sie haben diese Haltung gegenüber Kinder so gelernt und nie hinterfragt. Ich selbst habe auch mal so gedacht.

Ich bin froh, dass ich gelernt habe, Dich als gleichwürdige Person zu sehen. Mit Dir gemeinsam zu wachsen und zu lernen – zum Beispiel mit Fremdbestimmung und Frust umzugehen – ist unbezahlbar. Ich danke Dir dafür.

Deine Mama aus der guten Kinderstube

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