Ist Attachment Parenting ein unnötiger Begriff?

02.17.2015

In letzter Zeit lese ich immer wieder Kommentare, die mich nachdenklich machen. In diesen Kommentaren regen sich Leser auf, dass es Begriffe wie Attachment Parenting und bedürfnisorientiertes Familienleben gibt. Schließlich sei das alles natürlich und brauche keinen hochgestochenen Fachwörter, kein Label. Aus dem Bauch heraus sei doch am Besten und immer dieser Hype, das würde nerven.

Was ich nachvollziehen kann ist, dass jeder Begriff auch eine Schublade öffnet und Attachment Parenting sowie Bedürfnisorientiertheit mehr ist, als eine Methode der Erziehung, mit festen Elementen wie Stillen, Tragen und Co-Sleeping. Dabei geht es mir an dieser Stelle ausdrücklich nicht darum, ob individuelle Lebensweisen wie langes Stillen, Familienbett und Tragen als normal angesehen werden. Das wäre zwar schön, aber für mich sind es vor allem sehr gute Werkzeuge, um eine Bindung aufzubauen und zu festigen. Ich kenne aber auch Familien, in denen nichts davon stattfand, die ich aber trotzdem als bedürfnisorientiert und liebevoll wahrnehme.

Wichtiger ist die dahinter stehende Haltung, die vielleicht tatsächlich mal natürlich war und es bei manchen Völkern und auch Familien in Deutschland ist. Im Gros unserer Gesellschaft ist es aber leider nicht „normal“ auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen, sie zu respektieren und gleichwürdig zu behandeln.

Ich will euch eine Szene erzählen, die ich mit meiner Tochter erleben musste:

Wir waren im Supermarkt, in einer Ecke eines Imbisses und schauten durch die Scheibe Bauarbeitern zu. Da hörten wir ein Kind ziemlich verzweifelt weinen. Meine Tochter fragte ständig, ob das Kind denn nicht zu seiner Mama könne. Dann sahen wir das Mädchen, ich schätze sie auf 3 Jahre, an der Hand ihres etwas älteren Bruders um die Ecke kommen. Noch immer weinte sie bitterlich.
Ich fragte, ob sie vielleicht Hilfe brauchen, aber der Bruder meinte, sie bekämen gleich etwas zu essen.

Etwas später kam der Vater mit noch einem Kind im Kinderwagen und brachte Pommes und Limo zum Tisch. Die Kleine weinte weiter sehr verzweifelt nach ihrer Mama. Der Vater begann daraufhin sie als „Mamakindchen“ zu beschimpfen. Sie solle jetzt essen und überhaupt sei sie böse. Das sagte er immer wieder. „Du bist so böse!“ Einmal erwiderte ich laut, dass niemand böse sei, weil er weint, aber das beeindruckte nicht.
Der Bruder hatte offensichtlich mehr Empathie und fragte, ob sie denn den Bären des Mädchens nicht dabei hätten. Hatten sie leider nicht. Eine ältere Frau lief vorbei uns meinte lachend: „Ja, die Mädchen haben immer den größten Rand!“ Und ich hatte kurz gedacht, sie wollte das Kind trösten!

Meine Tochter fragte dann, warum der Mann schimpft. Sie meinte, das Mädchen müsse doch auf den Arm. Ich stimmte ihr zu und sagte auch laut, dass sie gar nicht böse, sondern sehr traurig sei und ich auch fände, dass sie Trost bräuchte. Wir überlegten und meine Tochter schlug vor, im Geschäft zu schauen, ob sie einen kleinen Bären haben, den sie dem Mädchen schenken könnte. Leider kamen wir dazu nicht mehr. Mit den Worten: „Heute kriegst Du nichts mehr zu essen!“ stand der Vater auf, packte zusammen und sie gingen. An der Hand ihres Bruders, der nun lieb auf sie einredete, beruhigte sich das Mädchen etwas. Nach bestimmt 20 Minuten Weinen.

Ähnliche Situationen beobachte ich immer wieder und sie stellen mich persönlich vor ein Problem: Sie machen mich wütend und lassen mich ohnmächtig zurück. Ich weiß nie, wie ich reagieren soll, ob ich reagieren soll. Schließlich hat jeder das Recht, sein Kind so zu erziehen, wie er es für richtig hält und ich bin weit davon entfernt, mich selbst als die Mutter des Jahrhunderts zu fühlen. Wer bin ich, über andere Eltern zu urteilen? Aber ein Kind so leiden zu sehen und gleichzeitig zu erkennen, dass die Haltung dahinter bedeutet, dass es keine Einzelsituation ist, ist für mich schwer zu ertragen.

Also schwanke ich zwischen Einmischung und Raushalten. Ich gebe zu, ich verurteilte diesen Vater und die alte Frau auch. Ich verglich und wertete, doch wem ist damit geholfen? Niemandem. Mit etwas Abstand kann ich dem Vater Empathie entgegen bringen. Ich bin mir sicher, aus seiner Sicht und mit seinen Ressourcen tut er sein Bestes für seine Kinder. Wahrscheinlich ist er ähnlich aufgewachsen oder musste noch viel mehr Gewalt erleben. Er denkt vielleicht, dass seine Tochter lernen muss, nicht zu weinen und stark zu sein? Vielleicht hat er gelernt, dass Liebe weh tun muss?Doch mit der „natürlichen“ AP-Haltung, mit respektvollem und liebevollem Umgang hat das nichts zu tun. Und deshalb bin ich froh, dass es diesen „Hype“ gibt und Begriffe es möglich machen, dass Artikel  und Bücher erscheinen, Kongresse gehalten werden und Gedanken weitergetragen werden.

Ich persönlich wünsche mir, dass unsere Gesellschaft lernt, Kinder nicht mehr zu diskriminieren, sondern ihnen klare Rechte einräumt, sie schützt und ihnen den gleichen Respekt und die gleiche Würde zuspricht, wie sie alle Menschen verdienen. Daher bin ich froh, wenn durch Worte Realitäten geschaffen und Ideale offen vermittelt werden. Ich hoffe, dass das ein echter Trend ist, der sich nicht mehr umkehren lässt, da sich bestimmte Gedanken, wenn sie einmal gedacht wurden, nicht mehr „entdenken“ lassen.

Seit einiger Zeit übe ich Gewaltfreie Kommunikation. Noch stehe ich am Anfang eines langen Weges. Deshalb: Ich versuche, nicht zu werten und zu verurteilen, aber ich fordere alle Eltern auf, sich ihrer Verantwortung zu stellen, sich selbst zu entwickeln und ihren Kindern keine Gewalt – weder seelische noch körperliche – anzutun, nur weil sie auch so aufgewachsen sind.

Eure Julia aus der guten Kinderstube

2 Comments

  • Julia sagt:

    Hier ein Kommentar von Mrs. Cgn, den sie leider nicht abschicken konnte:

    Liebe Julia,

    wir hatten uns ja schon kurz auf Twitter ausgetauscht. Ich komme bei diesem Blogpost mit zwei Dingen nicht so gut zurecht:
    Warum Du für Dein Anliegen, Kindern bedürfnisorientiert zu begegnen, sie zu respektieren und gleichwürdig zu behandeln, englische Begriffe brauchst, wird für mich mit diesem Blogpost nicht deutlich.
    Deine Antwort auf Twitter war: "Weil ohne Begriffe keine Artikel, Bücher, Verbreitung der Gedanken/Haltung, die dahinter stehen." Das wirft weitere Fragen auf, etwa nach kommerziellen Interessen oder missionarischem Eifer. (dies einfach mal als Feedback, wie es ankam)
    Beide Punkte werden m.E. Deinem sehr verständlichen (und auch löblichen) Anliegen nicht gerecht. Eine Haltung macht sich nicht zwingend an Begriffen fest – wie kommst Du darauf? Ich sehe da in erster Linie mal das Handeln, denn reden lässt sich immer viel. Dazu kommt, dass die Verwendung solcher „Buzzerwörter“ nicht zielgruppengerecht ist. Denn wen möchtest Du damit erreichen? Ich könnte mir vorstellen, dass der Vater, den Du oben beschrieben hast, dazu gehörte. Ich glaube nicht, dass er Dir auch nur eine Sekunde zuhörte, würdest Du auch nur eines dieser o.g. Begriffe verwenden. Will sagen: Diese Wörter, zum Teil englisch und monströs, sperrig und schwer verdaulich, sind aus meiner Sicht überhaupt nicht zielführend. Wenn sich eine Sache, ein Anliegen, eine Idee hinter solchen (Marketing?)-Begriffen verstecken muss – was sagt mir das über das Anliegen?

    Ein weiterer wichtiger Punkt ist: Du argumentierst mit Theorien, mit Büchern, mit Ideen anderer. Das ist überhaupt nicht zu kritisieren und mit Blick auf Deine Lebenssituation nur zu verständlich. Doch all diese Theorien und Ideen müssen sich in der Praxis bewähren. Ich behaupte aus meiner Erfahrung heraus, dass es mit Kindern im Alter Deiner Tochter leicht fällt, das zu üben und auch zu leben. Ich habe das auch so empfunden. Doch was ist, wenn die kleine Maus mal nicht mehr klein ist? Ich bin gespannt auf Deine Art der Kommunikation, wenn Deine Tochter Wörter oder Redewendungen aus der Schule oder einem anderem Umfeld mitbringt, von deren Existenz Du vorher gar nicht wusstest, und die ganz sicher nicht immer von Respekt und Gleichwürdigkeit zeugen.

    Genau an diesem Punkt wird Haltung aus meiner Sicht wichtig. Und die äußert sich dann nicht in Form von Begriffen, die womöglich erklärt werden müssen, sondern in einem Verhalten, das der Situation angemessen ist, ihr gerecht wird. Ein Verhalten, das dem (größeren) Kind zeigt, dass es gesehen (im psych. Sinne), dass es angenommen wird in seinem Sein. In diesen Situationen hilft keine Theorie, kein Konzept, keine Idee, sondern schlicht das tiefes Gefühl (Gespür) für das Kind. Darum geht’s.
    Liebe Grüße

  • Julia sagt:

    Danke für diesen tollen und differenzierten Kommentar! Ich versuche mal knapp darauf zu antworten:

    1. Die Begriffe müssen nicht englisch sein, ich selbst bevorzuge bedürfnisorientieres Familienleben. Aber ich bleibe dabei, dass ohne irgendwelche Begriffe nicht berichtet, diskutiert, weitergetragen werden kann.
    2. Ich denke, dieser Vater wird vorerst damit nicht erreicht, da gebe ich Dir recht. Aber ich kenne immer mehr junge Mütter, die ihrem Bauchgefühl statt den Ermahnungen der Schwiegermutter folgen wollen und aus den Mustern ihrer Kindheit ausbrechen wollen. Diese informieren sich – so wie ich übrigens – im Netz, in Zeitschriften etc und bekommen dort Ideen und Bestärkung. Je mehr das werden, desto eher wird irgendwann auch "dieser Vater" erreicht.
    3. Klar, kann ich nicht sagen, ob meine Bemühungen meine Haltung zu festigen, gewaltfrei zu kommunizieren und eigene anerzogene Muster zu überwinden auch später funktioniert. Aber ich kenne mittlerweile einige Familien, bei den es klappte. Ich bleibe dran und dann werde ich sehen. Mehr kann ich nicht tun.
    Liebe Grüße!

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