Bundesjugendspiele: Mitgefühl ausgeschlossen?

06.26.2015

Seit Tagen wird im Netz über die Abschaffung oder Beibehaltung der Bundesjugendspieler diskutiert. Angestoßen hat diese Diskussion die kluge Christine von Mama-arbeitet.de mit ihrem Artikel und einer Petition. In dieser schreibt sie selbst, dass es nicht ihr primäres Ziel ist, die BJS als Wettkampf an sich abzuschaffen, sondern vielmehr die Unfreiwilligkeit und das offensichtliche Leid einiger Kinder nicht weiter zu ignorieren.

Zuerst freute ich mich tierisch über ihren Vorstoß, denn ja, auch ich habe jahrelang unter den BJS gelitten und ich kenne viele, die dadurch Traumata haben. Mittlerweile wünschte ich fast, es hätte die Diskussion nicht gegeben. Denn die Argumente und teilweise wirklich hämischen Kommentare der Befürworter machen mich dermaßen betroffen, dass ich nicht so recht weiß, wie ich dem begegnen kann.

Natürlich gibt es auch „gemäßigte“ Befürworter, die nur sehen, dass die BJS unangenehm sind, aber im Allgemeinen eher wollen, dass etwas gegen Mobbing getan wird, anstatt genau diesen Wettbewerb abzuschaffen. Ich denke, dass sie das Leid der Kinder z. T. falsch einschätzen und daher nicht nachvollziehen können. Mitten ins Herz treffen mich aber Aussagen wie „in-Watte-packen“, „Weicheierkultur“, „Helikoptereltern“, „Abhärtung“ und schlimmere Begriffe, die ich hier nicht wiederholen will. Da werden Eltern und Betroffene auf so fiese Weise abgewertet und verurteilt, das es fast an Opfer Bashing grenzt. Einige ziehen sogar über übergewichtige Kinder her, obwohl das keineswegs Thema ist.

Ich habe überlegt, woher die Aggression bei diesem Thema kommt. Ich kann mir zum einen vorstellen, dass gerade die, die bei den BJS – im Gegensatz zum Schulunterricht – mal glänzen konnten und großen Spaß hatten, sich dies nicht nehmen lassen wollen und es daher vehement verteidigen. Euch sei gesagt: ES WILL EUCH NIEMAND NEHMEN! Es geht lediglich darum, die zu schützen, die unter dem „lustigen Sportfest“ leiden. Zum anderen wird es klar, dass eben dieses Leid nicht im vollen Ausmaß nachvollzogen wird. Es fehlt schlicht an Empathie.
Vielleicht spiegelt das Ganze auch die Spaltung unserer Gesellschaft wieder. Ein Teil legt den Schwerpunkt auf Leistung, Vergleich, Karrieredenken, Konkurrenz und eine gewisse Härte, der andere Teil wünscht sich eine Veränderung, hin zu mehr Mitgefühl, Empfindsamkeit, Toleranz, Inklusion und Gewaltfreiheit.

Was in der Diskussion in meinen Augen untergeht, sind Schilderungen und Erklärungen zu dem Leid, um das es hier geht. Ich glaube nämlich nicht, dass das Leid durch den Wettbewerb oder die Niederlage entsteht. Das Leid trifft Kinder und Jugendliche in einer schwierigen Lebensphase, die ein geringes Selbstwertgefühl, eventuell große Probleme mit ihrem Körper in der Pubertät haben und vielleicht auch einfach nicht gerne in Konkurrenz stehen.
Ich kenne Mädchen, die gifte Substanzen geschluckt haben, um auf dem Sportplatz zu erbrechen und nicht teilnehmen zu müssen. Andere haben geübt, sich gegenseitig durch Hyperventilation und Boxen in die Lunge/Magengegend zur Ohnmacht zu kriegen – mit Erfolg! Es gab Kinder, die sich schlicht versteckten und zuhause schwere Strafen auf sich nahmen, weil sie keinen Ausweg sahen. Einige dieser Kinder gingen selbst in einen Sportverein – mit Spaß! Viele waren in anderen Bereichen ebenso erfolglos, taten sich da aber nicht so schwer. Einige waren sogar ziemlich sportlich und hätten Urkunden bekommen. Nicht wenige fingen übrigens an, den Sport zu hassen.

Aus der heutigen Zeit kenne ich von Bekannten nur die Erzählungen der Eltern, dass die Kinder „versuchten krank zu machen“ oder „um eine Entschuldigung bettelten“. Keine Ahnung, ob diese Kinder auch auf ähnliche Strategien gekommen sind.
Es geht also gar nicht um darum, dass diese Kinder sich dem Wettbewerb oder einer Niederlage nicht stellen wollten/wollen oder sie gar zu faul für den Sport wären. Es geht um Kinder, die sich schwach und verletzlich fühlen und trotzdem gezwungen werden, sich diesem Wettbewerb zu stellen, vor den Augen der ganzen Schule.

Statt zuzuhören und dieses Leid wahrzunehmen, bekommen sie jetzt die oben genannten Aussagen um die Ohren gehauen. Es wird auf die Schwachen eingeprügelt – nicht sehr sportlich.
Dabei wäre es so einfach, den Zwang abzustellen, die Kinder, die ein Problem haben, zu begleiten, ihnen zuzuhören und beizustehen. Sie könnten, wie auch Christine vorgeschlagen hat, Teil des Sportfestes sein, indem sie Zeiten nehmen, Sand rechen oder dokumentieren. Man könnte daran arbeiten, ihr Selbstgefühl und Selbstwertgefühl zu stärken statt sie „abzuhärten“, weil man da eben durch muss. Aber dazu müsste man erst einmal das Leid anerkennen, es nachfühlen. Vielleicht sind dazu viele Menschen zu sehr abgehärtet worden?

Eure Julia aus der guten Kinderstube

 

1 Comment

  • Jessica sagt:

    Ich finde deinen Post sehr gut geschrieben und richtig. Ich habe auch jahrelang Angst vorm Sportunterricht gehabt, nicht weil ich Sport nicht mochte, sondern weil ich mich regelmäßig blamiert habe. Ich glaube, das hat mich bis heute (negativ) geprägt. Jedenfalls ist diese Häme, von Leuten, die nie besonders unsportlich waren und sich das Ausmaß der Demütigungen, das damit verbunden ist hoffnungslos unsportlich zu sein, vielleicht einfach nicht vorstellen können und wollen, sehr erschreckend. Und ich fühle mich tatsächlich auch etwas persönich angegangen, obwoh der Schulsport schon Jahre hinter mir liegt. Danke jedenfalls für den Text.

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