Mir begegnet oft die Frage, wie viel Führung Kinder brauchen, wie viele Regeln nötig sind und ob Eltern konsequent sein müssen. Oft sind das gar keine Fragen, sondern klar geäußerte Meinungen. Denn sehr viele Menschen in meinem Umfeld, sind überzeugt, dass ein Kind nicht zu viele Freiheiten haben sollte. Gerade in der Autonomiephase finden es viele Erwachsene besonders wichtig, den Kindern zu zeigen, wer bestimmt.
Ich selbst habe mich davon verabschiedet, irgendeine Art von Machtgefälle aufrecht zu erhalten und zu versuchen „die Oberhand“ zu behalten wie ich es letztens als Expertenrat hier gelesen habe. Deshalb halte ich auch nichts mehr davon, konsequent zu sein, nur um eine Stellung zu wahren. Stattdessen bin ich auch in der Beziehung zu meinem Kind, wie in allen anderen Beziehungen, bemüht, kompromissbereit zu sein und Lösungen zu finden, wenn Konflikte auftauchen.
Das heißt nicht, dass ich meine Werte nicht vorlebe und die Führung, z. B. durch die Strukturierung des Tages, nicht übernehme. Ich übernehme klar die Verantwortung für unser Familienleben (selbstverständlich gemeinsam mit meinem Mann), da mir bewusst ist, dass diese nicht beim Kind liegen darf. Meiner Erfahrung nach möchten Kinder sich in den meisten Fällen ohnehin unserem Vorleben anpassen und kooperieren. Aber wenn unsere Werte, Vorstellungen oder Pläne für mein Kind ein Problem darstellen, dann suchen wir nach einer Lösung. Und bevor jetzt gleich der Aufschrei kommt: Ja, unsere Tochter erlebt Frust. Wir halten ihn nicht künstlich von ihr fern und begleiten sie, wenn sie damit umgehen muss. Nur verursachen wir nicht nach Belieben Frust, damit sie „es“ lernt.
Ich bin der festen Überzeugung, dass unsere Kinder bereits mit vielen Kompetenzen auf die Welt kommen. Wenn wir sie lieben und ihnen dies auch so zeigen, dass sie es fühlen können, wenn wir als Bindungspersonen fest an ihrer Seite stehen, dann werden sie ganz von selbst selbständig, stark und mit jeder Erfahrung, die wir sie machen lassen, noch kompetenter.
Ich muss allerdings zugeben, dass es mir manchmal nicht leicht fällt, aus alten Denkmustern auszubrechen. Es tauchen immer mal wieder welche auf, die mir noch nicht bewusst waren. Dazu gehört auch das ungeplante Loslassen. Denn in der Theorie bin ich bei der „Wurzeln-gießen-und-sich-über-Flügel-freuen-Fraktion“. Aber trotzdem ist es einfach ungewohnt, wenn das Kind das Tempo vorgibt und man selbst damit schnell klar kommen muss. So bei uns vor einigen Wochen geschehen.
Wir waren auf dem zehnten Geburtstag der Zwillinge, die ich früher einige Jahre betreut habe. Tochterkind mag das Mädchen der Familie sehr und hatte großen Spaß dort. Als wir gehen wollten verkündete sie: „Ich schlafe heute hier.“
Ich: „Ich glaube Dir, dass Du dazu Lust hast, aber denkst Du nicht, dass Du vielleicht traurig bist, wenn Du heute Nacht wach wirst und wir sind nicht da?“
Tochter: „Nein, ich bin dann nicht traurig.“
Ich: „Dann müssen wir erst einmal fragen, ob Du hier schlafen darfst.“
Kind überlegt. Dann fragt sie: „Mama, seid ihr traurig, wenn ich nicht bei euch schlafe?“
Ich: „Nein Kind, wir sind dann nicht traurig.“
Tochter: „Gut, dann könnt ihr morgen im Bett liegen und schlafen und ich schlaf hier.“Gesagt getan. Sie blieb bei ihrer Meinung, bleiben durfte sie, also holten wir zuhause schnell Schlafsachen und Zahnbürste und los ging sie, winkend ihrem Abenteuer entgegen.
Ich muss euch bestimmt nicht sagen, dass wir völlig aufgeregt waren. Und diese Aufregung kam zu großen Teilen davon, dass wir das nicht geplant hatten. Normaler Weise beobachten wir unser Kind und überlegen dann, ob Schritte wie z. B. Kindergarten sinnvoll sind oder noch warten sollten. Jetzt hatte sie einfach entschieden und das war schlicht ungewohnt. Gleichzeitig machte es mich unheimlich stolz.Wie die Sache ausging? Gegen 23 Uhr ließ sie sich wieder nach Hause bringen. Sie hatte nicht geweint, einfach gesagt, dass sie doch lieber zu uns möchte. Völlig müde, nach diesem langen Tag ohne Mittagsschlaf, fiel sie ins Bett und schlief bis morgens durch.
Ich glaube, dass es eine Erfahrung war, die wir niemals für sie hätten planen können. Nur dadurch, dass wir versuchen, sie so selbstbestimmt wie möglich sein zu lassen, hatte sie diese Möglichkeit.Und wir ebenfalls. Denn zum ersten Mal waren wir als Eltern gefordert, loszulassen und zu vertrauen, ohne das vorher durchdacht zu haben. Festzustellen, dass wir das können und unsere Idealvorstellung leben: Das hat auch uns gut getan.
Eure Julia aus der guten Kinderstube